Insel für Farbenblinde

Insel für Farbenblinde

Erfahrungsecke

Erfahrungsberichte von Betroffenen

Es wäre schön wenn bald noch mehr Erfahrungsberichte dazu kämen, also schreibt mir bitte wenn Ihr was habt, würde mich freuen.

Von D.

Meine Welt entdecken

Mein Osterstrauss

Die schönen Seiten meiner Augen

Alltag als Schwarz-Weiß-Gemisch

Von W.

Dieser mysteriöse Punkt des schärfsten Sehens

Der Gummi-Enten-Blues

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Meine Welt entdecken

Heute Abend war ich einmal wieder alleine gewesen, zur Zeit der Dämmerung. Ich liebe es dann, aus unserem Küchenfenster zu sehen und den Wald und den Himmel zu betrachten, während der Abend kommt und das Licht immer sanfter wird. Hier draussen ist es auch momentan sehr still, wir haben keine Durchgangsstraße und die Bauern sind noch nicht unterwegs. Es kommt dann immer so etwas wie Weite in mir auf und Frieden in mein Herz.

Früher habe ich das nie als Reichtum gesehen, es war mehr wie eine Schrulle von mir, die ich etwas belächelt habe. Erst jetzt, mit Euch, erkenne ich, dass es einfach meine mir gemäße Welt ist, die ich da genieße und die ihre eigenen Reize und Intensitäten hat. Das tut gut!

Eben habe ich auch das Buch von Oliver Sacks fertiggelesen und auch darin fand ich immer wieder Bestätigung. Sogar Bestätigung in meinem Gefühl, eigentlich an meinem Sehen nichts mehr verändern zu wollen, selbst wenn das irgendwann per Operation möglich sein sollte.

Allerdings habe ich meine Seh-Welt noch nie genau betrachtet und ausgelotet, auch nie versucht eine Sprache dafür zu finden. Das ist eigentlich schade und ich werde es jetzt tun.

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Mein Osterstrauss

Dieses Jahr will ich zum ersten Mal einen Strauß aussuchen, der zu mir und meiner Welt passt, das habe ich noch nie versucht. Sonst war immer ausschlaggebend, was "man" eben so nimmt.

Als ich losziehe, um Zweige zu holen, erinnere ich mich an den Frühling im Wald und mir kommen besonders die Buchen in den Sinn, die immer wenn sie ihre Blättchen öffnen, mit diesen hellen Punkten plötzlich herausstechen aus dem üblichen Gewirr von Flecken durch das alte Laub und Strichen, durch die noch kahlen Zweige der Laubbäume. Wenn sie so deutlich hervortreten, kann man erst ihre Größe und Form so richtig erfassen und ich freue mich jedes Jahr daran. Die Zweige zeigen dann ein fächerförmiges Bild und darunter kommt im Laufe des Jahres tiefer Schatten, weil sie das Licht auffangen. Auch im Herbst werden sie wieder deutlich werden, mit ganz hellen Blättern, doch momentan verbreiten sie ersteinmal gute Laune, mit den ersten Knospen, die ich zwar noch nicht sehe, doch spüre beim Abbrechen des Zweiges, den ich mir ausgesucht habe.

Seine Rinde ist glatt und metallisch glänzend, das wirkt kühl, doch der Farbton tut den Augen auf sanfte Weise wohl.

Dazu möchte ich einen Birkenzweig haben, denn deren Zweige sehen für mich eine schwarze Rinde und ich mag den Kontrast. Auch die Rinde dieses feinen Zweigleins glänzt und ich weiß, dass sie als erste die Blätter öffnen wird.

Eigentlich wollte ich noch eine Lärche mit ihren Blätterbüscheln dazu haben, weil ich mir das lustig vorstelle, doch diese Zweige sind zu hoch oben am Baum, sodass ich mich für einen Busch aus unserer Hecke entscheide. Es ist eine Weide, deren Triebe alle direkt aus der Wurzel kommen und die im Sommer ganz lange und schlanke Blätter hat. Der ganze Busch sieht wie eine Kugel aus und sticht von seiner Form und Art des Wachsens in die Augen.

Die Rinde der Weide ist matt und etwas rauh.

Im Haus erhält der Strauß einen Platz, der für mich nicht so günstig ist, denn der Hintergrund ist dunkles gemasertes Holz, doch ist er dort am Sichersten aufgehoben, ich würde ihn sonst leicht umstoßen, denn die feinen Zweigspitzen sind nur schwer vom Hintergrund zu trennen.

Schon nach einer Woche zeigen sich die Enden der Buchenzweige als helle Striche, die Knospen sind geschwollen und geben so dem Zweig eine deutliche Grenze. Die Birke hat bereits kleine Blättchen, die wie Kügelchen aus Krepppapier wirken und den Zweig wie eine Wolke umgeben, sodass man den Zweig beim flüchtigen Hinsehen gar nicht mehr bemerkt.

In wenigen Tagen will ich den Strauß dann österlich schmücken.

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Die schönen Seiten meiner Augen

Wenn ich im Sommer morgens losziehe, um meine Ponies von der Weide zu holen, gehe ich zuerst unsere Dorfstraße entlang, wobei mir die Halfter und Stricke über den Rücken herunterbaumeln. Die Halfter haben zwar alle verschiedene Farben, doch unterscheide ich selbst sie eher am Material oder am Muster. Das blaue ist z. B. mit sehr hartem Band und das lila aus ganz weichem. Das grüne hingegen ist mit etwas filziger Oberfläche, usw.

Zu meiner Weide geht es ein kurzes Stück durch den Wald, auf einem wurzeligen und steinigen Weg, auf dem es mir hilft, die Füße zu heben. Im Wald ist das Licht viel erträglicher für mich, doch wenn die Sonne scheint gibt es da so viele Flecken, dass es mich leicht verwirrt, mich das Licht immer wieder überraschend in die Augen sticht und ich den Untergrund mehr mit den Füßen sehe. Die große Wiese, auf der meine Tiere die Nacht verb4racht haben, liegt an einem steilen und buckligen Hang, sodass ich ungern darauf herumlaufe. Silfur, mein erstes eigenes Pferd ist der Chef, der nun irgendwo auf dem großen Areal herumsteht. ER ist ganz braun und für mich also auf der Wiese perfekt getarnt. Auch die Länge von 120 m läßt mir keine Chance zu sehen, wo er ist.

An manchen Tagen kommt er mir entgegen und wenn Sonne ist, glänzt diese auf dem Fell seines Rückens. Für mich sieht das dann so aus, also ob ein Sonnenpunkt rhythmisch über die Wiese auf mich zu kommt.

In diesen Momenten freue ich mich an meiner Weise zu sehen, denn ich finde es schöner, als einfach nur ein gehendes Pferd zu sehen. Auf meine Sichtweise zieht auch Sonne in mein Herz.

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Alltag als Schwarz-Weiß-Gemisch

Wenn man mit der Augenerkrankung Achromatopsie geboren wird, kann man keine Farben sehen, ist extrem Lichtempfindlich, und sieht relativ unscharf und wenig .Auch das Räumliche Sehen fehlt.

Wir Insider glauben natürlich, dass wir ganz normal sehen, denn wir kennen es ja nicht anders und Farben lassen sich nicht wirklich beschreiben. Auch die Schärfe des Sehens sowie die Menge wirkt subjektiv einfach normal.

Doch in unserem Alltag merken wir an manchen Stellen, dass wir eben doch nicht so viel können, wie andere Sehende, oder im Bezug auf die Farben, wie andere Sehbehinderte.

Schon morgens, bei der Auswahl der Kleidung, müssen wir unser Gedächtnis bemühen, um uns klar zu werden - besser gesagt zu erinnern, welche Kleidungsstücke zueinander passen und welche besser nicht. Dieses Wissen wird also auswendig gelernt, wie so vieles, was uns den Alltag erleichtert. Den Kleidereinkauf regeln wir meist über entsprechende Begleitung, auf die wir jedoch angewiesen sind. natürlich haben wir auch im Bezug auf Material, Schnitt und Grauton einen Geschmack entwickelt, doch sind wir auf den Rat der anderen in vielen Dingen trotzdem angewiesen. Ich selbst suche mir daher Begleiterinnen aus, deren Kleidung mir selbst auch gefällt und hoffe, dass das dann auch mein Stil wäre. Die Eröffnung, dass wir keine Farben sehen, führt meist zu der Frage "Welche Farbe hat denn mein Pullover?", die uns Betroffenen meist zum Halse heraus hängt.

Bei der Hausarbeit haben wir einesteils die Schwierigkeiten, die alle Sehbehinderten haben, doch fallen uns beispielsweise bestimmte Schattierungen ganz besonders ins Auge. So sieht man mich häufiger als andere Menschen, mit dem Pinsel meine weißgestrichenen Wände nachmalen, weil meine Augen ganz fein auf kleine Flecken darauf reagieren, übrigens auch auf Fettflecke in der Kleidung. Schmutzspuren sind da weit unsicherer wahrzunehmen, sodass ich Kleidung lieber früher in die Wäsche lege, da mir die Kontrolle fehlt. Für uns als Familie bedeutet das, mehr Kleidung zu besitzen, als andere und auch häufiger Waschmittel einzukaufen.

Beim Lebensmitteleinkaufen können wir uns nicht nach den Farben der Packungen richten, sondern müssen uns anhand von Symbolen oder Aufschriften das Passende heraussuchen, je größer die Auswahl, desto schwieriger. Qualität von frischen Waren können wir eher anhand des Duftes oder der Konsistenz erkennen, was nicht immer auf die Toleranz der Umgebung stößt. Auch das gutgemeinte helle Licht überall erschwert uns die Sache. An den Theken brauchen wir nette Bedienungen, die uns das Angebot gerne erklären und hoffentlich nicht zu großen Andrang, damit wir nicht alles Aufhalten, weil wir lange brauchen.

Im Zusammensein mit anderen Menschen belastet häufig die hohe Lichtempfindlichkeit. Wenn wir z. B. beim Lesen ganz nahe hinsehen kommt rasch der Spruch "Mensch Mädel Du verdirbst Dir ja die Augen" und schon ehe man Stopp sagen kann, beißt der helle Strahl des hilfsbereit angeknipsten Lichtes unsereinen in die Augen. Immer wieder ist auch die Entscheidung zu treffen, ob ich jetzt meine Augen weiterhin zusammenkneife, oder blinzle, was das ganze Gesicht zusammen mit der Schulterpartie verkrampft, oder ob ich die anderen darum bitte, auch wenn sie jetzt im Lokal gerne draußen sitzen möchten, doch mit ins dunkle innere zu gehen. Es gehört immer wieder Mut dazu, um Rücksicht zu bitten, zumal wenn es immer mehrere Personen sind, die wegen eines Einzelnen anders entscheiden sollen.

Farben helfen bei der Orientierung, sodass durchaus Sehbehinderte mit geringerem Visus besser zurechtkommen, indem sie eben den Farben Bedeutungen entnehmen, die mir verborgen bleiben. Der weiße Fleck in der Wiese, mit einem roten darüber, ist eben vermutlich ein Haus. Das kann ich nicht erkennen. Besonders schwierig wird es, wenn sich Stufen vom Kontrast her für uns Farbenblinde nicht genug hervorheben oder wenn Farben verwendet werden, die für uns keine Kontraste ergeben. Dann kommt es leicht zu Verletzungen, die bei etwas mehr aufmerksamkeit der Politiker vermeidbar gewesen wären. Auch hier hilft uns wieder unser Gedächtnis. Das kann dann so aussehen, wie eine andere Betroffene erzählte, zum Thema Stufen in Geschäften die man auf hellem Marmorboden eben nicht sieht. Sie merkt sich dann, dass 1/2 m nach dem Ständer mit den Unterhosen eine Stufe kommt und die nächste ist dann unmittelbar vor den Sporthosen ...

Wenn wir Farbenblinden etwas erkennen wollen, benötigen wir eine Fülle von Informationen anderer Sinne, um zum gleichen Ergebnis zu gelangen, das ein Farbsehender mit einem Blick erreicht. Die Unterscheidung von Heu und Stroh beispielsweise, geschieht meist mittels der Farbe. Wußten Sie, dass Stroh meist glatter ist und glänzend? Sich der Halm des Heus rauh anfühlt und dass Stroh spröder bricht, als Heu? All das muß ich kombinieren, ehe ich die Definition treffe. Natürlich unterscheiden sich manche Heu und Strohsorten auch für mich durch das bloße Aussehen, doch nicht alle.

Die Lichtverhältnisse sind für uns nur selten ideal, meine besondere Liebe gehört der Dämmerung, doch diese Zeiten sind kurz. Dann kann ich endlich die Augen weit öffnen, die verkrampften Gesichtsmuskeln lockern und herumschauen, wie alle anderen auch. Der Blick wird weich und weit.

Am Abend eines Tages, der erfüllt war mit erinnern kombinieren, bücken zum näher hinsehen und blinzeln bzw. augenzusammenkneifen, ertragen der Schmerzen durchs Licht usw. ist man schon müde.

Allerdings stelle ich mir eine Welt mit Farben sehr verwirrend vor, haben doch Form und Schattierung auch ihre Reize. Obwohl uns durch die fehlenden Farben der Entwicklungsschritt zur Freude am Sehen fehlt - dazu sind die Farben nämlich für den Säugling gut - haben wir andersteils durch die hohe Lichtempfindlichkeit genug Anreiz unsere Neugierde auszuprägen, die das ausgleichen hilft. Das Licht stimuliert nämlich beim Säugling das Neugierverhalten. Also hat auch unsere Sicht der Welt ganz viele Facetten. Manchmal macht es Farbsehenden auch Freude, wenigstens ein bisschen in unsere Welt einzutauchen und sie stellen sich die Dinge als Schwarzweißfilm oder Fotografie vor. Der Computer bietet da viele Möglichkeiten. Der Reichtum an Nuancen kann allerdings nicht technisch nachvollzogen werden und die meisten Farbsehenden haben diese Möglichkeit ihres Sehens nie genügend geschult, um an die hohe Vielfalt heranzukommen, die für uns Insider zur Selbstverständlichkeit geworden ist.

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Dieser mysteriöse Punkt des schärfsten Sehens

Ich bin Achromat, und immer wieder stosse ich auf der Suche nach Wahrheit auf folgenden Punkt, nämlich den klaren, den des schärfsten Sehens.

Er ist es angeblich die Hauptursache, dass Normalsichtige so unglaublich scharf sehen. Bei Achromaten ist, wenn ich es richtig verstanden habe, das mangelnde Zäpfchensehen dafür verantwortlich, dass eben dieser Punkt und somit das schärfste Sehen stark eingeschränkt sind.

Wenn allein schon die Vorstellung, dass Normalsichtige ohne Probleme durchschnittliche Monitorschrift aus zwei bis drei Metern Entfernung erkennen können, meine Phantasie übersteigt, wie muss ich mir dann erst diesen ominösen Punkt vorstellen (dessen Kollegen in der Mathematik immerhin mit NULL Breite und NULL Höhe definiert werden, was allein den Begriff schon bedrohlich macht)?

Ich kann nicht richtig fokussieren, was heisst das eigentlich? Wie fokussiert wer fokussiert? Ist es als entspannte Konzentration auf einen Teilbereich der Landschaft, Gesicht, Schrift zu verstehen? Geht dieses Fokussieren blitzschnell und unbewusst vor sich? Erzeugt es mehr Sicherheit im Bewerten von Situationen? Mehr Klarheit?

Ich kann nicht richtig fokussieren, was heisst das eigentlich? Wie fokussiert wer fokussiert? Ist es als entspannte Konzentration auf einen Teilbereich der Landschaft, Gesicht, Schrift zu verstehen? Geht dieses Fokussieren blitzschnell und unbewusst vor sich? Erzeugt es mehr Sicherheit im Bewerten von Situationen? Mehr Klarheit?

In meiner Vorstellung sehen "Normalsichtige" so scharf, wie ich es mir in meinen Träumen nicht ausmalen kann. Z.B. beim Zeitunglesen aus normaler Entfernung (bin immer 10 - 20 cm dran). Kann mir gar nicht vorstellen, dass man etwas so kleines wie Zeitungsschrift aus 40, 50, 100 Zentimeter Entfernung erkennen kann. Mehr Überblick - d.h. die gleichen Informationen bei grösserem Bildausschnitt.

Welche Eindrücke sind das, wenn man von der Ferne alle Informationen zur Verfügung hat (z.B. bei Betrachten einer mit bunten Werbeplakaten bepflasterten Wand)? Finde ich z.B. interessant.

Oder - vielleicht noch wichtiger: Habe oftmals den Eindruck, dass ich bei Gesprächen, oft in einer Gruppe, das meiste versäume, was mir auch schon so ähnlich gesagt wurde. Nur: was genau versäume ich? Kopfnicken? Zwinkern? Lächeln? Vor Ekel verzogenes Gesicht bei einem schlechten Witz?

Oder kurz:
Wie sehr ergänzen Eurer Meinung nach die Körpersprache das gesprochene Wort?

Nicht, dass ich unglücklich bin, wenn ichs weiterhin nicht weiss. Im Normalfall beschäftigt mich meine Achromatopsie kaum, nur in bestimmten Situationen (neuer Arbeitsplatz, sich verlieben, freundlichh hell erleuchtete Umgebung) ;-)

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Der Gummi-Enten-Blues

Aus wem wird man, wenn überhaupt, wie schlau?

Da mich das Thema Kommunikation immer wieder fesselt, hier mal eine kleine aber immer wieder kehrende Beobachtung. Dies ist ein Beispiel, dass mir im Leben noch nie passiert ist, aber für viele andere Beispiele steht. Die Namen sind natürlich alle frei erfunden.

Achromat Gustel Graustich (Er könnte natürlich auch Grünstich heissen, das wär ihm aber dann wahrscheinlich schnuppe...), beschwingt von vorweihnachtlichem Enthusiasmus, beschliesst, seinen Nachbarn (die er alle recht nett findet) einmal eine Freude zu machen.

Natürlich hat er auch ein paar soziale Hintergedanken, weil man ihn manchmal schon etwas seltsam erlebt (aber durchaus angenehm). Schliesslich grüsst er nur in der Dämmerung und aus unmittelbarer Nähe (oder wenn man ihn verzweifelt endlich selbst anspricht). Ein näherer Kontakt zu seinen toleranten, aber irritierten Nachbarn, hat sich noch nicht entwickelt. So geht dies schon friedlich seit vielen Jahren.

Unser Gustel, hat sich angewöhnt, anderen auf mehr ungewohnte Weise zu zeigen, dass er sie sympathisch findet, denn er hat erfahren: diese berühmte nicht ausgeübte nonverbale Kommunikation kann in gewissen (vor allem hellen) Situationen geschliffene und ernst gemeint freundliche Worte im negativen Sinne durchaus aufwiegen („warum schaut er einem nur selten – wie zufällig - in die Augen, wenn er mit einem spricht?“).

Also ereilt ihn diese Idee, sich etwas einfallen zu lassen, das sagt: „Hey, ihr seid nicht langweilig, nicht doof!“ (beides ist übrigens glücklicherweise nicht immer gleichzusetzen)

Gustel Graustich eilt selig ins nächste Kaufhaus und erwirbt erst mal drei aufblasbare Gummienten (eine für jeden Nachbarn). Daheim angekommen schreibt er (nach zwei Gläsern Wein und bei Anhören der CD einer wirklich mördermässig gewöhnungsbedürftigen niederbayerischen Freejazz-Band) auf jede dieser Enten mit Folienstift so einen sinnfreien, aber gut gemeinten Ausruf wie „Frohe Weihnacht!“ oder „Gutes Neues Jahr!“.

Da unser Achromat im Allgemeinen zwar sehr fröhlich und neugierig, aber etwas zurückhaltend ist, schleicht er also um Mitternacht von Nachbarstür zu Nachbarstür und plaziert, diabolisch in sich hineinschmunzelnd, heimlich seine Gummienten.

Zufrieden legt er sich ins Bett und schläft den Schlaf des Gerechten

Am nächsten Morgen ist das Geschrei bei den Nachbarn natürlich gross. Man findet es erfrischend und sehr angenehm, dass einem ein solch ungewöhnliches Geschenk gemacht wurde, und jeder rätselt, wer denn der Spender sein mag.

Wie es der Zufall will, wurde Gustel bei seiner Aktion jedoch vom nachts noch herumtorkelnden Stefan Sagsweiter (der Skatbruder des Onkels der Lebensgefährtin eines der Nachbarn – wie immer rein zufällig, Peter Petzer wollte ich ihn natürlich nicht nennen) beobachtet, und der läuft natürlich umher und erzählt freimütig, was für originelle Ideen doch dieser Graustich so zu bieten hat. Nun beginnt man, über ihn zu reden. Man müsse sich doch irgendwie bedanken, der meine es ja wirklich gut mit einem.

Als unser Gustel nun nach Feierabend wieder einmal nach Hause schlendert, wird er am Gartenzaun gleich von Friedhelm Fröhlich abgefangen (der Lebensgefährte der Nichte des Skatbruders von Stefan Sagsweiter). Und der verwickelt ihn auch gleich in ein interessantes Gespräch über die desaströse Weltkonjungtur, ausserdem weiss er viel über die Meerschweinchenzucht zu erzählen. Graustich unterhält sich gern mit ihm – aber etwas schüchtern schaut er dabei zu Boden oder in die Leere. Ausserdem ist es im Vorgarten etwas hell, und er verabschiedet sich bald freundlich, aber bestimmt. Friedhelm Fröhlich ist ein bisschen verwundert, denkt sich aber nichts weiter.

Auch der noch vom harten Arbeitstag etwas gestresste Nachbar Wolfgang Würger will an diesem späten Nachmittag dem freundlichen Gustel noch seine Aufwartung machen. So klingelt er ganz unbescholten einfach an dessen Haustür (Wolfgang Würger ist ein sehr direkter Mensch). Gustel öffnet diese – etwas verdutzt – freut sich aber, dass er besucht wird, und Wolfgang Würger erzählt ihm gleich ein paar seiner besten Witze. Da der Würger in der offenen Tür steht, und unserem Achromaten beim anregenden Gespräch der zwar trübe aber ihm immer noch zu helle Nachmittagshimmel zu schaffen macht, beschliesst er, nicht den gleichen Fehler zu machen, wie beim Friedhelm. Er sagt ihm einfach, dass ihm das Licht etwas zu stark ist, ob denn der Würger sich nicht lieber bei einem Bierchen im Wohnzimmer weiter unterhalten wolle. Wolfgang Würger kommt sich jetzt etwas verarscht vor, und ausserdem wurde ja heute sein Antrag auf Gehaltserhöhung abgelehnt. Er macht Kehrt, verabschiedet sich unwirsch, und denkt sich, dass dieser Herr Graustich sich wohl als etwas Besseres vorkommt (die nächsten Tage wird man ihn des öfteren selbstvergessen knurren hören).

Silvia Schön, die dritte Nachbarin, fand den Graustich schon immer recht nett, und findet die Gelegenheit günstig, ihn einmal näher kennen zu lernen. Also klopft sie später am Abend frisch und wagemutig einfach an seine Türe. Gern wird sie empfangen. Auch gegen ein Glas Wein im Wohnzimmer hat sie nichts einzuwenden. Man unterhält sich angeregt und sehr amüsant über Gummienten, Brombeerkuchen und sonstige verrückte Dinge. Als Silvia Schön sich auch noch als Freejazz-Begeisterte outet, ist das so richtig nach Gustels Geschmack, und man lacht und erzählt sich wunder- und sonderbare Geschichten bis tief in die Nacht hinein. Allerdings stört es Silvia Schön doch ein bisschen, dass der Blick vom Gustel doch etwas arg sprachlos ist. Die Seele eines Menschen sehe man doch vor allem durch die Augen. Als dieser ideenreiche Gummienten-Nachbar dann nicht einmal dafür begeistert werden kann, am nächsten Wochenende gemeinsam eine Fahrradtour zu machen, wird Silvia ein wenig traurig und plötzlich ganz still. Sie verabschiedet sich sehr freundlich, erblickt aber irgendwie keine Herzenswärme in seinem Gesicht. Noch eine Woche lang ist sie etwas bedrückt.

Die Nachbarn halten es nach mehreren gemeinsamen Gesprächen jetzt zwar für unwahrscheinlich aber möglich, dass diese läppischen Enten vielleicht überhaupt gar nicht nett gemeint waren. Aber sie haben sich vorgenommen, auf ein positives Zeichen von Gustav Graustich zu warten. Jetzt soll er aber auf sie zukommen. Sie sind allesamt unsicher, verwirrt und ein wenig verletzt, obwohl sie ihn eigentlich noch ganz gern hätten. Und unser Achromat hat jetzt etwas Angst davor, ein Gespräch zu suchen, da er den Eindruck hat, dann alles nur noch schlimmer zu machen. Manchmal können sie sich dann doch nicht ganz zurückhalten. Friedhelm Fröhlich nickt ihm ermunternd zu. Wolfgang Würger winkt bisweilen. Silvia Schön schaut verträumt. Und Gustav Graustich tut scheinbar so, als bemerke er es nicht. Interessant, verschlossen, weit entfernt. Sie sind mittlerweile ernüchtert. Und jeder Tag entfernt ihn weiter.

Wenn er nachts von Gummienten träumt, wacht er heute noch regelmässig schreiend auf.

Und ein guter Freund sagt ihm dazu (natürlich bei Wein und Freejazz): „Wenn Du nur mutig und ganz Du selbst wärst, würde es keine Grenzen zwischen Dir und der Wirklichkeit geben.“

Und der gute Freund hat natürlich Recht.

Jemand hier schon mal ein Gummienten-Erlebnis gehabt? Als Gustel oder als Nachbar?

Würde mich über Erlebnisse freuen (dürfen natürlich auch echte sein).

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